Von vor der Geburt bis zum Tod – die Einrichtungen und Dienste, die an den Caritasverband im Erzbistum Paderborn angeschlossen sind, begleiten das ganze Leben. Das Angebot fängt bei Schwangerschaftsvorbereitungskursen und Geburtsstationen in katholischen Krankenhäusern an, geht über Tageseinrichtungen für Kinder, Jugendberufshilfe, Schuldnerberatung, ambulante Pflegedienste bis zur Versorgung in Hospizen und Palliativ-Stationen. Allein im Erzbistum Paderborn arbeiten 70.000 Menschen für die Einrichtungen und Dienste der Caritas. Der Diözesan-Caritasverband begleitet und unterstützt diese Einrichtungen – und setzt sich politisch für Menschen ein, die sonst keine Lobby haben.
Wenn Sie heute eine Sache per Gesetz verändern könnten …
Haben Sie eine Lieblings-Szene des Evangeliums?
Die Heilung am Sabbat aus dem Lukasevangelium (14,1-6). Zum einen, weil sich darin die Arbeit der Caritas wiederspiegelt. Es geht uns darum, 24/7 Not zu sehen und zu handeln. In der ambulanten Pflege, im Krankenhaus, Hospiz und vielen weiteren Kontexten. Zum anderen ist für mich als Juristin die beschriebene Spannung interessant. Jesus lebt vor, dass das Gesetz dem Menschen dienen soll. Das Wohl des Einzelnen kann in Ausnahmesituationen auch mal über dem Gesetz stehen.
Wie berührt Sie diese Bibelstelle persönlich?
Mich berührt, wie Jesus die Menschen so sieht und annimmt, wie sie sind. Er geht dahin, wo andere nicht hingehen. Er wendet sich den Menschen zu, die am Rand stehen, die krank und gebrechlich sind. Bei Menschen, die vermeintlich eine Straftat begangen haben, sagt er: „Wer ohne Schuld ist, werfe den ersten Stein“. Ich habe das Gefühl: Die Menschen, denen Jesus begegnet ist, fühlen sich angenommen und gesehen. Das ist ein Kern der Botschaft Jesu und hoffentlich auch Kern von Kirche und Caritas.
Das ist schon ein Anspruch.
Das ist eine Messlatte, die ganz schön hoch liegt.
Begleitung durchs ganze Leben
Wie kommen Sie diesem Anspruch nach?
Ins eigene Haus hinein habe ich schon den Anspruch, eine offene Tür zu haben, für Sorgen und Nöte da zu sein. Und ich spüre eine Verantwortung in den sozialpolitischen Fragen, die wir als Caritas mitbewegen. Wir kämpfen dafür, dass die Menschen am Rande der Gesellschaft gesehen werden.
Wer sind Menschen am Rand?
Menschen, bei denen die Grundbedürfnisse, die alle haben, nicht erfüllt sind. Durch Armut, schwere Erkrankung, fehlende Bildung. Auch Einsamkeit ist ein Thema. Ich kann ja alles Notwendige haben und trotzdem aufgrund meiner Lebenssituation vereinsamen. Wenn ich niemanden zum Reden habe.
Wie kämpfen Sie für diese Menschen?
Es ist unser Ziel, die Menschen nicht nur zu versorgen sondern sie von den Rändern in die Mitte der Gesellschaft zu begleiten und die Hürden abzubauen. Ende vergangenen Jahres war ich bei der Aktion „Warm durch die Nacht“ von der youngcaritas Dortmund. Ich bin schwer beeindruckt, wie die jungen Menschen völlig selbstverständlich auf die Obdachlosen zugegangen sind. Manche Obdachlose sind fast schon auf die jungen Menschen mit dem Bollerwagen voll Kaffee und Kleidung zugerannt. Da geht es nicht nur darum, Menschen materiell zu helfen, sondern auch, ohne Berührungsängste miteinander zu schnacken.
Wenn Sie heute eine Sache per Gesetz verändern könnten, was wäre das?
Ich denke an das Wahlrecht. Alle fordern, die Demokratie zu stärken – und gleichzeitig war die Wahlbeteiligung bei der vergangenen Landtagswahl in NRW so niedrig wie noch nie. Ich frage mich: Wie viele Menschen grenzen wir aus, weil sie nicht wählen dürfen? Brauchen wir ein Wahlrecht ab 16? Gerade die junge Generation ist an vielen Stellen hochpolitisch unterwegs. Es geht auch um Menschen, die seit Jahren und Jahrzehnten in Deutschland leben und keine deutsche Staatsangehörigkeit haben. Meine Mutter zum Beispiel ist in Deutschland geboren und lebt hier, seit 70 Jahren – hat aber nur den niederländischen Pass. Sie darf nur bei der Kommunalwahl wählen.
Das Thema Wahlen hätte ich jetzt nicht erwartet…
Mir würden auch viele Dinge in der Arbeitsmarktpolitik oder Sozialpolitik einfallen. Beim Bürgergeld gibt es viele Dinge, die noch deutlich besser gestaltet werden könnten.
Was war der erste Moment, in dem Sie ein Bewusstsein für Ungerechtigkeit entwickelt haben? Ein Moment, in dem Sie gemerkt haben: Hier läuft etwas schief?
Als ich in der fünften Klasse war, wurden zwei Mülleimer, die an einem Ententeich standen, angezündet und sind abgebrannt. Das war direkt auf meinem Schulweg, sodass ich miterlebt habe, wie dieses eigentlich schöne Fleckchen immer dreckiger wurde. Ich habe dann zusammen mit anderen Kindern zwei alte Ölfässer von der Tankstelle organisiert und angepinselt. Mein Vater hat die Fässer an Stelle der Mülleimer angeschraubt. Da sie nicht der Norm entsprachen, hat die Stadt sie umgehend entfernt. Erst auf massive Nachfrage kam eine Erklärung. Später hat die Stadt dann richtige Mülleimer aus Metall aufgehängt, sich entschuldigt und für das Engagement gedankt.
Demokratie stärken - aber wie?
Alle fordern, die Demokratie zu stärken – und gleichzeitig war die Wahlbeteiligung bei der vergangenen Landtagswahl in NRW so niedrig wie noch nie. Ich frage mich: Wie viele Menschen grenzen wir aus, weil sie nicht wählen dürfen? Brauchen wir ein Wahlrecht ab 16?
Wenn Sie heute etwas verändern wollen – wie geht das?
Caritas ist hochvernetzt. Politisch, innerhalb der Kirche, mit anderen Wohlfahrtsverbänden und auch Caritas-intern. Wir werden an Gesetzgebungsverfahren beteiligt, wir dürfen Änderungsvorschläge formulieren, unser Sachverstand wird angefragt. Wir sind im Gespräch mit der Politik, setzen eigene Akzente durch Aktionen und unsere Pressearbeit. Wir machen darauf aufmerksam, was drängt und legen den Finger in die Wunde. Ich versuche, in den vielen Gremien, in denen ich sitze, die richtigen Fäden zu ziehen.
In wie vielen Gremien sitzen Sie denn?
Das müsste ich schätzen. Bestimmt zwei Dutzend.
Nennen Sie mal ein paar Beispiele.
Ich sitze im Vorstand und Präsidium der NRW-weiten Krankenhausgesellschaft, im Vorstand des katholischen Krankenhausverbands auf deutschlandweiter Ebene. Dann beim Deutschen Caritasverband im Caritasrat. Dazu haben wir die Direktoren-Konferenz der Caritas NRW, viele Caritas-interne Gremien sowie unsere diözesanen Arbeitsgemeinschaft. Und noch eine Fülle anderer Gremien, in denen ich schaue: Wo kann ich mich mit meinem Wissen, mit meinen Talenten wirkungsvoll einbringen?
Worauf hätten Sie gern mehr Einfluss?
Ich weiß gar nicht, ob ich gern mehr Einfluss hätte – aber schnelleren Einfluss. Es kostet Kraft, das vieles so lange dauert.
Caritas gehört zu Kirche. Der Glaube und das Wertegerüst sind ein wichtiges Mittel, um unsere Gesellschaft lebensfreundlich zu halten. Die Kirche und die Caritas nehmen auch schon mal unbeliebte Positionen ein und sind Bedenkenträger. So soll Fortschritt nicht auf Kosten von den Schwächeren geschehen, sondern im Einklang mit der gesamten Gesellschaft.
Woran denken Sie?
Ich denke beispielsweise an die sogenannten Live-Ins: Osteuropäische Haushaltshilfen, die Familien in Deutschland unterstützen. Da setzen wir uns seit Jahren mit CariFair dafür ein, dass es für diese Menschen faire und legale Beschäftigungsverhältnisse gibt. Es besteht die Gefahr, dass die Haushaltshilfen unter dem Radar arbeiten, nicht sozialversichert sind und ausgebeutet werden. Andererseits sollte es möglich sein, dass die Pflegebedürftigen diese Art der Hilfe mehr aus der Pflegeversicherung finanzieren können. Es ist ein zähes Unterfangen, das politisch durchzusetzen.
Seit wann sind Sie da dran?
Seit weit über zehn Jahren. Für CariFair ist Josef Lüttig als damaligem Diözesan-Caritasdirektor schon 2011 in Polen dafür das Ehrenabzeichen „Für Verdienste um Menschenrechte“ verliehen worden.
Also hätten Sie gern schnelleren statt mehr Einfluss?!
Ja; mehr Einfluss schadet natürlich auch nicht. Aber ich hoffe, dass der Einfluss nicht weniger wird. Kirche und Caritas haben sich in der Politik in den vergangenen Jahrzehnten ein Standing erarbeitet.
Was fehlt, wenn Kirche und Caritas nicht mehr dieses Standing hätten?
Zunächst: Caritas gehört zur Kirche. Sie ist aus der verfassten Kirche entstanden, um den diakonischen Dienst strukturiert aufzubauen. Mit unserem Glauben und Wertegerüst würde ein Korrektiv in Gesellschaft und Politik wegbrechen. Wir haben zum Beispiel mit Thema Suizid-Assistenz eine wertvolle Haltung: Das Leben ist ein Geschenk, das wir von Gott erhalten. Wenn alle immer möglichst offen sind, ist es manchmal auch nicht schlecht, Bedenkenträger zu sein. Sich auf den Kern zu besinnen und zu fragen, ob es zwischen Schwarz und Weiß auch Zwischentöne gibt.