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© Africa Studio / Shutterstock.com

Wenn Nächstenliebe politisch werden will…

Ein Gespräch mit Dr. Andreas Fisch von der Kommende Dortmund über die gesellschaftliche Verantwortung der Kirche. Der Text ist die Langfassung des Interviews, das in Ausgabe 1/2023 der wirzeit erschienen ist (S.12).

Kirche und gesellschaftliches Engagement – das gehört zusammen. Von den ersten Jahrhunderten des Christentums an haben sich gläubige Frauen und Männer für Menschen in Not eingesetzt. Warum ist das so, welche Prinzipien leiten die Kirche dabei und wie sieht es heute aus? Ein Gespräch mit Dr. Andreas Fisch, Sozialethiker und Referent für Wirtschaftsethik an der Kommende Dortmund, dem Sozialinstitut des Erzbistums Paderborn.

Redaktion

Hat schon Jesus gesellschaftliche Verantwortung übernommen?

Dr. Andreas Fisch
Porträt Dr. Andreas Fisch

© Mike Siepmann

Auf alle Fälle hat er sich um jene Menschen gekümmert, die es nötig hatten. Um Kranke zum Beispiel oder „Besessene“ – heute würde man vermutlich sagen: psychisch kranke Personen. Aber auch um Menschen wie den Zöllner Zachäus, der im Auftrag der Römer Geld eintrieb, also Teil eines Ausbeutungssystems war, das Menschen arm gemacht hat. Jesus muss so mit ihm geredet haben, dass Zachäus nachher aufgehört hat, Teil dieses Systems zu sein. Mit seinen Gleichnissen gibt Jesus den Anstoß, dass wir nicht nur für Familie und Freunde sorgen, sondern uns auch um Menschen sorgen, mit denen uns manchmal nur das Menschsein verbindet. Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter ist dafür das berühmte Beispiel.

Redaktion

Dann gehört gesellschaftliches Engagement also zur DNA der Kirche?

Dr. Fisch

Es ist unstrittig, dass Nächstenliebe zu allen Zeiten gelebt wurde. Weniger eindeutig wird es, wenn es um das institutionalisierte Engagement geht, vor allem, wenn es sich mit dem politischen Einsatz für Menschen verbindet. In Gemeinden kümmert man sich selbstverständlich um Liturgie und Verkündigung. Aber die dritte Grundfunktion der Kirche, die Diakonie, wird bisweilen an die Caritasverbände wegdelegiert. Dabei ist Diakonie auch eine Aufgabe von Gemeinde. Da macht das Zielbild 2030+ ja zum Glück eindeutige Aussagen.

Redaktion

Eine eigene Lehre für gesellschaftliches Engagement hat die Kirche im 19. Jahrhundert entwickelt. Wie kam es dazu?

Dr. Fisch

Das 19. Jahrhundert war das Zeitalter der Industrialisierung. Diese führte in ihren Anfängen zu großer Verelendung zahlreicher Menschen. Da stieß individuelle Nächstenliebe an ihre Grenzen. Es entstand eine Bewegung an der kirchlichen Basis, die auf den damaligen Papst Leo XIII. einwirkte, sich zu den Missständen zu äußern und die Ausbeutung der Arbeiter zu verurteilen. Eine solche Enzyklika erschien 1891 unter dem Titel „Rerum Novarum“. Die Enzyklika war der Startschuss für die Katholische Soziallehre. Sie zeigt, dass man die Ursachen von Ungerechtigkeit beseitigen muss, wenn man eine menschenwürdige Gesellschaft verwirklichen möchte.

Der Lesetipp

Das Thema „Soziale Gerechtigkeit“ bewegt Sie und Sie möchten tiefer einsteigen? Dann interessiert Sie vielleicht die aktuelle Ausgabe von AmosInternational, der Internationalen Zeitschrift für Sozialethik, die über die Kommende Dortmund herausgegeben wird. Das neue Heft (1/2023) befasst sich mit „Stellschrauben gegen soziale Ungerechtigkeit“. In den Beiträgen werden verschiedene Ansätze besprochen, die bei Steuern und Sozialabgaben einen messbaren Effekt auf die Minderung sozialer Ungleichheiten in Deutschland entwickeln können.

Redaktion

Wie stellte sich die Kirche denn eine menschenwürdige Gesellschaft vor?

Dr. Fisch

Grundsätzlich bezeichnet die Kirche eine Gesellschaft dann als gut, wenn sie die Menschenwürde achtet und Subsidiarität wie in der Demokratie verwirklicht. Bezogen auf die Wirtschaft hat die Kirche in Deutschland zusammen mit der Evangelischen Kirche das Leitbild einer „ökologisch- sozialen Marktwirtschaft“ entwickelt und vertreten.

Redaktion

In der aktuellen Krise wächst die Armut. Sind wir – aus Sicht der Katholischen Soziallehre –  trotzdem eine menschenwürdige Gesellschaft?

Dr. Fisch

Das Bemühen um eine menschenwürdige Gesellschaft ist ein ständiger Prozess. Dafür hat sich der Dreischritt „Sehen – Urteilen – Handeln“ durchgesetzt. So kann Kirche auf aktuelle Entwicklungen zu reagieren. Das war im 19. Jahrhundert so und das ist auch heute so. Besonders wichtig sind dabei Menschen an der Basis, die die aktuellen Nöte der Leute wahrnehmen, sie „sehen“. Ich denke da etwa an Beratungsstellen der Caritas,  an Lehrkräfte und Erzieherinnen, die eine veränderte Situation in Familien viel früher sehen. Bleiben wir sensibel für die vielfältigen Nöte und setzen uns auch politisch für hilfreiche Neuerungen ein, dann bleiben wir eine menschenwürdige Gesellschaft.

Redaktion

Was kann der Staat tun, um für mehr soziale Gerechtigkeit im Sinne der Katholischen Soziallehre zu sorgen?

Dr. Fisch

Die Sozialethik fragt nach gerechten Strukturen, Gesetzen und Institutionen. In diesem Sinne befürwortet sie es, wenn eine Regierung Maßnahmen für die Zukunftsfähigkeit der Sozialen Sicherungssysteme ergreift, Geringverdienende, Alleinerziehende und Obdachlose nicht aus dem Blick verliert, Rahmenbedingungen für ökologische Ziele setzt und gleichzeitig soziale Ungleichheiten mindert. Ein Beispiel: Mehrarbeit lohnt sich derzeit für Geringverdienende kaum, weil sie aufgrund von Sozialabgaben und dem Wegfall von Wohngeld und anderen Transferleistungen Abzüge von bis zu 130 % haben. Bei 100 % Abzügen behält man nichts vom verdienten Geld, bei 130 % hat man weniger als vorher. Es gibt Reformvorschläge, die gesamten Abzüge verlässlich und kalkulierbar auf 60 % festzulegen.

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Redaktion

Und was kann Kirche tun?

Dr. Fisch

In der Regel kann Kirche dann etwas bewirken, wenn konstruktiv zusammengearbeitet wird, innerkirchlich, ökumenisch, interreligiös und mit „allen Menschen guten Willens“.  Das war zum Beispiel der Fall beim Lieferkettengesetz, das 2023 in Kraft tritt. Dabei geht es darum, dass Unternehmen Verantwortung für die Arbeits- und Produktionsbedingungen ihrer Zulieferer übernehmen. In der politischen Kampagne waren viele kirchliche Akteure mit anderen verbunden – auch das Erzbistum Paderborn! Und dieses breite Bündnis war notwendig, weil auch die Gegner Lobbyarbeit betrieben haben. Im Ergebnis ist ein Kompromiss herausgekommen, ein Einstieg in eine bessere Regelung, die noch weiter verbessert werden darf.

Redaktion

Wäre eine Kirche, die sich aus der Gesellschaft zurückzieht und sich selbst genug ist, noch Kirche?

Dr. Fisch

So wie ich den Glauben kennengelernt habe: Nein. Man müsste dann zahlreiche Bibelstellen streichen und überhaupt die Rede vom menschenfreundlichen Gott. Letztlich wären wir dann wohl eher eine Sekte oder ein Museum ohne Gegenwartsbezug. Papst Johannes Paul II. hat übrigens in seiner Enzyklika „Ecclesia de Eucharistia“ (2003) geschrieben, dass es keine Eucharistie gibt ohne die Sorge für die Bedürftigen. Sinngemäß hat er gesagt, dass an der gelebten Caritas überprüft werden kann, ob die Eucharistie echt und gültig ist.

Redaktion

Gibt es für Sie ein besonderes Vorbild für gesellschaftliches Engagement?

Dr. Fisch

Persönlich vertraut ist mir Jesuitenpater Christian Herwartz. Er hat in Berlin-Kreuzberg in einer Wohngemeinschaft mit Obdachlosen, Flüchtlingen und Menschen aller Lebensumstände und Herkunft zusammengelebt. Vor Gericht hat er das Recht erstritten, auf Flughäfen gegen Abschiebungen zu demonstrieren. Und in Codó, Brasilien habe ich ein halbes Jahr als „Missionar auf Zeit“ mit Padre José Wasensteiner gelebt, einem Pallottiner, der sich mit ganzem Herzen für die Menschen vor Ort einsetzt. Oder Schwester Lea Ackermann. Sie hat die Hilfsorganisation „SOLWODI“ gegründet, die sich für die Rechte von Frauen mit Migrations- oder Fluchthintergrund in Deutschland einsetzt: Betroffene von Menschenhandel, Zwangsheirat, sexueller Ausbeutung und anderer Gewalt.

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