Elmar Schäfer ist 54 Jahre alt, verheiratet und hat zwei Kinder. Der Diplom-Sozialpädagoge war lange Zeit in der Jugendverbandsarbeit der Katholischen Landjugendbewegung tätig, unter anderem acht Jahre als hauptamtlicher Bundesvorsitzender. Anschließend zog es ihn in die Jugendhilfe. Ab 2007 arbeitete er im Jugenddorf Petrus Damian, eine Einrichtung der Jugendhilfe im Erzbistum Paderborn gGmbH, erst als Pädagogischer Leiter, dann als Einrichtungsleiter. Seit 2015 ist er Geschäftsführer der Jugendhilfe im Erzbistum Paderborn gGmbH. Seine Leidenschaftsthemen sind Klimaschutz und Nachhaltigkeit.
Halt in unhaltbaren Zeiten
Herr Schäfer, was können wir uns unter der Jugendhilfe vorstellen?
Jugendhilfe im Erzbistum Paderborn, das sind über 500 stationäre und teilstationäre Plätze für Kinder und Jugendliche, die nicht bei ihren Familien leben können. Hinzu kommen mehr als 250 ambulante Hilfen. Insgesamt sind wir 800 Mitarbeitende an vier Einrichtungen und zwei Schulen.
In der Wirtschaft wäre das ein stattlicher Mittelständler, vielleicht sogar ein kleiner Konzern.
Ja, deshalb müssen wir angesichts unserer Größe aufpassen, dass bei uns die Konzernstrukturen nicht Überhand nehmen, sondern dass wir immer nah an den Kindern und Jugendlichen bleiben. Das ist eines unserer wichtigsten Ziele in der Jugendhilfe. Wir haben unsere Strukturen in der Jugendhilfe professionalisiert, das war sehr wichtig. Aber damit und mit einem immer größer werdenden Fachwissen ist es nicht getan. Die uns anvertrauten Kinder und Jugendlichen müssen in unseren Einrichtungen ein Gefühl von Beheimatung spüren können. Dazu ist es notwendig, dass die uns anvertrauten Kinder und Jugendlichen auch mal einen Fehler machen können. Und für das Gefühl der Beheimatung braucht es Erzieherinnen und Erzieher, mit denen die Kinder und Jugendlichen auch mal herumalbern können. Wer albert, hat die Hoffnung auf ein besseres Leben nicht aufgegeben. Unsere Aufgabe ist es, Halt zu geben in eigentlich unhaltbaren Zeiten.
Aus der Größe der Jugendhilfe im Erzbistum Paderborn lässt sich schließen, dass der Bedarf an Heimunterbringung und pädagogischer Unterstützung groß ist.
Der Bedarf ist sogar noch größer als unser Platzangebot. Zum Teil müssen Kinder und Jugendliche, die aus fachlicher Perspektive gesehen am besten stationär in einer unserer Einrichtung aufgehoben wären, mit einer ambulanten Unterstützung auskommen.
Woher kommt dieser hohe Bedarf?
Das hat sicher damit zu tun, dass die Jugendämter heute für Kindeswohlgefährdung stärker sensibilisiert sind als früher und damit bei einer akuten Krise oder einer dauerhaften Kindeswohlgefährdung schneller eingreifen. Es hat aber auch damit zu tun, dass bei Kindern und Jugendlichen die psychischen Erkrankungen zunehmen und es zu immer stärkeren und krasseren Verhaltensentgleisungen kommt – Stichwort Systemsprenger. Und es hat auch damit zu tun, dass Verhaltensauffälligkeiten bei Jugendlichen stärker kriminalisiert werden als noch vor einigen Jahren. Oder anders herum, dass Jugendkriminalität mehr angezeigt und strafrechtlich verfolgt wird. Das kann man positiv sehen: Es wird weniger Jugendkriminalität unter den Teppich gekehrt. Oder man kann es negativ sehen: Die Familien, Schulen oder andere soziale Systeme auf lokaler Ebene verlieren die Fähigkeit, kleinere Regelverstöße unter sich selbst auszumachen.
Systemsprenger, da bin ich gedanklich beim gleichnamigen Kinofilm. Gibt es diese Systemsprenger wirklich? Wie nah ist der Film an der Realität?
Systemsprenger ist ein in der Pädagogik umstrittener und unklar definierter Begriff. Aber es gibt Kinder und Jugendliche, die sämtliche Unterstützungssysteme sprengen, auch in unseren Einrichtungen. Der Film dramatisiert natürlich, weil er eine ganze Lebensphase des Mädchens in zwei Stunden Filmlänge packt. Auch scheint es mir so, als wären aus Gründen der Dramaturgie drei oder vier Biografien in einer Person dargestellt. Abgesehen von diesen filmischen Techniken zeigt der Spielfilm ein realistisches Bild.
Zur Person
Wie geht man mit Kindern und Jugendlichen um, deren Eigenschaft es ist, alle Hilfssysteme zu sprengen?
Wir kennen diese Biografien, bei denen Kinder und Jugendliche in einem Pingpong zwischen pädagogischen Einrichtungen und der Jugendpsychiatrie hin- und herwechseln. Die pädagogische Einrichtung ist bei einem depressiven oder aggressiven Schub überfordert. Die Jugendpsychiatrie wiederum ist keine pädagogische Einrichtung. Ist die Krise vorbei, endet auch der Aufenthalt. Dies führt immer wieder zu Beziehungsabbrüchen. Einen Satz kennen diese Kinder und Jugendlichen, die als Systemsprenger gelten, zur Genüge: Du bist hier falsch, du musst hier weg. Sie hören diesen Satz immer dann, wenn sie wieder mal ein System gesprengt haben. Wir sagen diesen Kindern und Jugendlichen etwas anderes: Du bist hier richtig. Das ist ein großer Satz und ein Versprechen. Damit wir es einhalten, wird es zu unseren Zukunftsaufgaben gehören, innerhalb der Jugendhilfe im Erzbistum Paderborn die jugendpsychiatrischen Kompetenzen zu erweitern. Aber selbst wenn wir das schaffen: Die Garantie, dass es bei uns funktioniert, gibt es nicht. Man muss sich auch die Frage stellen, was überhaupt ein Erfolg ist, was dieses Funktionieren bedeutet.
Also stelle ich die Frage: Was ist ein Erfolg in der Jugendhilfe?
In unserer Erfolgsgesellschaft gibt es den Grundsatz, dass am Ende immer mehr herauskommen muss, als man vorher an Ressourcen hineingesteckt hat. Die ganze Wirtschaft funktioniert nach diesem Prinzip, aber auch der Staat organisiert seine Ausgaben in den Kategorien von Kosten und Nutzen. Diese Vorstellung ist so weit verbreitet, dass sie unser Denken hegemonial bestimmt, dass sie also nicht mehr hinterfragt wird. Aber selbst dieses Denksystem von Kosten und Nutzen sprengen die Systemsprenger. Aus ihnen wird womöglich niemals ein angepasstes und funktionierendes Mitglied der Gesellschaft. Funktionierend in dem Sinn, dass dieser Mensch mit seinen Steuern und Sozialabgaben später die Kosten für die Jugendhilfe abbezahlt. Aber was wäre die Alternative? Es gleich bleiben zu lassen? Diesem Menschen nicht zu helfen? Es gibt im Kontext der Jugendhilfe kein Funktionieren und kein Scheitern, kein reines Schwarz und kein reines Weiß. Alles, was dem Menschen hilft, ist gut. Damit sind aus meiner Sicht die Kosten-Nutzen-Erwägungen im Kontext der Jugendhilfe der falsche Ansatz. Aber selbst wenn man sich nicht von dieser Denkweise lösen kann, muss in diese Rechnung einfließen, wie viel gesellschaftlichen Schaden und wie viel individuelles Leid ein Systemsprenger in seinem Leben anrichten kann. Jugendhilfe ist demnach beides: individuelle Hilfe und gesellschaftliche Prävention.
Sie sprachen es vorher an, dass die Nachfrage nach Betreuung Ihre Kapazitäten übersteigt. Wie kommt das zustande?
Auch das hat mit Kosten- und Nutzenerwägungen zu tun. Die Jugendhilfe im Erzbistum Paderborn ist eine gemeinnützige GmbH, arbeitet also nicht profitorientiert. Unsere Kosten allerdings müssen wir erwirtschaften. Die von uns erbrachten Leistungen werden größtenteils von den Jugendämtern, also vom Staat, bezahlt. Der Staat wiederum ist nicht bereit, weitere Plätze für Kinder und Jugendliche in Schwierigkeiten zu finanzieren. Man könnte jetzt den Staat dafür verantwortlich machen, aber die eigentliche Dimension des Sachverhalts ist viel größer. Denn der Staat macht das, was die Gesellschaft von ihm erwartet oder womit sie ihn konkret beauftragt. Und wenn der Staat bei stationären und teilstationären Hilfen für Kinder und Jugendliche in Schwierigkeiten spart, hat es zumindest den Anschein, dass dieses Thema für die Gesellschaft nicht so wichtig ist. Die Realität macht aber auch deutlich, dass selbst da, wo das Geld da wäre, oftmals nicht genügend Fachkräfte zur Verfügung stehen. Es gibt Einrichtungen, die Plätze nicht mangels Bedarf, sondern wegen zu wenigen Arbeitskräften abbauen.
Wie wäre das Problem zu lösen? Mit mehr Öffentlichkeitsarbeit? Mit mehr politischem Druck?
Ja, deshalb machen wir heute dieses Interview. Aber wir brauchen einen viel größeren Diskurs. In unserer Gesellschaft ist Finanzkraft sehr ungleich verteilt. Milliardenvermögen bleiben unangetastet, während Kinder und Jugendliche in schwierigen Lagen nicht die Betreuung erhalten, die sie benötigen. Der Ruf nach Umverteilung wird deshalb lauter. Was uns aber allen fehlt, und zwar mich eingeschlossen, ist die Vorstellung, was nach einer Umverteilung kommt und wie Wohlstand für alle aussehen könnte. Wir brauchen eine neue gesellschaftliche Vision. Diese muss unbedingt auch den Aspekt der Nachhaltigkeit und die Perspektive von Kindern und Jugendlichen einschließen. Wir können von Kindern und Jugendlichen keine positive Vision erwarten, wenn wir buchstäblich ihre Welt verbrennen.
Treiben die Gedanken an den drohenden Klimakollaps die Jugendlichen in Ihren Einrichtungen um?
Natürlich.
Und wie reagieren Sie darauf?
Wir haben 800 Beschäftigte, die irgendwie zur Arbeit kommen müssen, wir haben eine Flotte von mehreren Hundert Autos im Einsatz, dazu viele Wohn- und Wirtschaftsgebäude, die wir beheizen, wir beziehen Unmengen an Strom. Unser Ressourcenverbrauch bewegt sich in der Größenordnung eines Dorfes. In der Vergangenheit waren wir Teil des Problems, jetzt wollen wir Teil der Lösung sein. Ich bin sehr froh darüber, dass unsere Aufsichtsgremien und die Führungskräfte unsere ökologische Transformation unterstützt. Auch das macht mir Hoffnung.