Vor 70 Jahren wurde am 7. Oktober die DDR gegründet, vor 30 Jahren fiel am 9. November die Mauer zwischen Ost- und Westdeutschland – das waren zwei Ereignisse mit Strahlkraft und Perspektiven für viele Menschen. Strahlkraft und Perspektive für unser Erzbistum hatte auch der 25. Oktober 2014, als das Zukunftsbild in Kraft trat. Hinter all diesen Ereignissen standen verschiedene Vorstellungen von Zukunft.Zu der Zeit, als die DDR gegründet wurde, war ich noch Schüler der Grundschule und habe noch nicht viel über meine Zukunft nachgedacht. Doch habe ich meine Ferien immer auf einem Bauernhof verbracht, wo mein Onkel Verwalter war. Für mich war damals klar: Ich möchte Bauer werden – wegen der Vielseitigkeit der Aufgaben, der Nähe zur Natur, dem Umgang mit Tieren und Maschinen. Das atmete für mich Freiheit – so ganz anders als es wohl in der DDR damals der Fall war. Den Begriff „Deutsche Demokratische Republik“ haben wir gar nicht benutzt. Für uns gab es ein Deutschland – und als Teil davon eine „Ostzone“ mit russischer Besatzung.
Ständige Angst vor Spitzeleien
Mit der Priesterweihe wurde mir stärker bewusst, dass ich zu einem Presbyterium gehöre, zu dem auch Priester unserer Erzdiözese in Ostdeutschland zählen. Diese wurden ja ins heutige Bistum und ins damalige Kommissariat Magdeburg entsandt, das damals trotz der innerdeutschen Grenze zum Erzbistum Paderborn zählte. Damals habe ich begonnen, die Priester und ihre Gemeinden dort regelmäßig zu besuchen. Besonders erschrocken und zugleich abgestoßen hat mich die Erfahrung, wie sehr die Menschen mit der ständigen Angst vor Spitzeleien und Erpressungen leben mussten, weil der Staat auf alle mögliche Art und Weise versucht hat, Einblick in den geschützten Raum der Kirche zu bekommen.
Dankbar für jedes Zeichen der Verbundenheit
Man konnte spüren, dass die Menschen unendlich dankbar waren für jedes Zeichen der Verbundenheit, wie etwa Briefe, Pakete oder Besuche aus dem Westen – für sie war das eine Verbundenheit mit einem Stück Realität, dass sie nur aus dem Fernsehen oder Radio kannten. Ich konnte auch spüren, wie die Bedrängnis die Menschen einerseits zusammenschweißte, andererseits aber auch in die Isolation trieb. Sie lebten in ihrer kleinen Welt den letzten Rest von Freiheit, der ihnen geblieben war. Viele Priester in Ostdeutschland habe ich als sehr einsam und allein gelassen erlebt – die Angst vor Denunziation war allgegenwärtig. In einer Gesellschaft, die gänzlich taub gegenüber Religiosität war, erhielten sie außerdem überhaupt keine Impulse, um den eigenen geistigen und geistlichen Hunger zu stillen.Ich erinnere mich noch gut daran, dass ich bei meinen Besuchen oft mit den Worten begrüßt wurde: „Du lebst im Paradies, wir im Gefängnis.“ Der Wunsch nach Veränderung war zu spüren, aber die politische Lage erschien Vielen als hoffnungslos. Und doch: Die Glaubenszuversicht war ein starker Motor. Die Solidarität der Katholiken und der Christen in Ostdeutschland untereinander war sehr hoch. So konnten sie überleben.
Übersteigerte Zukunftserwartung
Als 1989 die Mauer fiel, habe ich eine große innere Freude empfunden, dass zwei „amputierte Glieder“ wieder zusammenfinden. Sie gehörten ja zusammen. Aber neben aller Euphorie konnte ich feststellen, dass die Menschen im Osten die westliche Wirklichkeit nicht immer richtig einschätzen konnten, im Sinne einer übersteigerten Zukunftserwartung. Es war eben nicht das Paradies. Was sie besonders tragisch empfanden: Die starke Verbundenheit der Menschen untereinander, die sich in der Situation der Bedrängnis gebildet hatte, konnte in der ungewohnten Freiheit nicht erhalten werden. Sie erlebten: Wohlstand und Freiheit, diese für uns an sich hohen Güter, sind nicht automatisch Wege zum Wohlergehen.